Sendung 631 vom 30.11.2023
Zu unserer heutigen Sendung begrüßen wir Herrn Professor Dr. Werner Ruf mit einem Beitrag zu dem aktuellen Krieg im Gazastreifen. Er war bis zu seiner Emeritierung als Professor an den Universitäten Duisburg-Essen und Kassel mit den Schwerpunkten internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik tätig und ist Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel.
Grundlage seines Beitrages ist ein Artikel von ihm, der von dem Verlag in dem er erscheinen sollte nicht angenommen und somit zensiert wurde. Nachstehen der Originaltext dieses Textes:
Werner Ruf
Kommt nun die zweite Nakba?
Der Zionismus ist das Kind des nationalistischen 19. Jahrhunderts. Die
Judenpogrome in Osteuropa, die Dreyfus-Affäre in Frankreich und wachsendes
antisemitisches Schrifttum in ganz Europa bildeten den Hintergrund für den
Zionisten-Kongress in Basel 1897, auf dem die Gründung eines jüdischen
(säkularen) Staates gefordert wurde – egal wo, in Ostafrika oder Patagonien, oder
eben in Palästina.
Im ersten Weltkrieg suchte der britische Imperialismus Verbündete im Kampf zur
Zerschlagung des osmanischen Reiches: Den Zionisten wurde die Schaffung einer
„nationalen Heimstätte“ in Palästina versprochen, den in Mekka residierenden
Haschemiten ein unabhängiges arabisches Königreich. Realisiert wurde dann jedoch
das Sykes-Picot-Abkommen (alles 1917), in dem Großbritannien und Frankreich die
Aufteilung des Nahen Ostens in Kolonialgebiete vereinbarten. So wurde nach dem
1. Weltkrieg Palästina britisches Mandat. Bis zum 2. Weltkrieg kämpften
palästinensische und aus der Einwanderung nach Palästina entstandene zionistische
Gruppen gegen diese Kolonialherrschaft.
Im November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen eine Zwei-Staaten-Lösung,
die für den geplanten Staat Israel ein etwas größeres und auf der Seeseite
gelegenes Territorium vorsah. Ab Dezember 1947 (Plan Dalet) begannen
zionistische Milizen mit der systematischen Vernichtung palästinensischer Dörfer und
Städte und der Vertreibung der „arabischen“ Bevölkerung. Auch das einzige dieser
Massaker, das international Beachtung fand, die Zerstörung des Dorfes Dir Yassin,
erfolgte einen Monat vor der Gründung des Staates Israel. Ein Mythos ist es also,
dass die palästinensische Bevölkerung einem Aufruf zur Flucht gefolgt sei, den die
arabischen Armeen, die Israel nach der Staatsgründung 1948 angriffen, erlassen
hätten. Für die Palästinenser ist diese Vertreibung von 700 000 Menschen bis heute,
75 Jahre danach, die Nakba, die Katastrophe.
Der Überfall am 7. Oktober 2023 wurde getragen von einer Koalition, der auch der
Islamische Jihad und die säkulare FPLP angehörten. Er war also nicht nur eine
Aktion der von der EU als Terrororganisation geführten Hamas, sondern weiter Teile
des palästinensischen Widerstands, allerdings ohne Beteiligung der PLO und der
von ihr getragenen „Autonomiebehörde“. Dieser Angriff wurde mit äußerster Brutalität
gegen die israelische Zivilbevölkerung geführt. In der arabischen Welt (nicht jedoch
bei den meisten der dortigen Regierungen) und in weiten Teilen der Dritten Welt
wurde er als erfolgreicher Aufstand im antikolonialen Befreiungskampf mit
Begeisterung aufgenommen. Im Westen jedoch und vor allem in Deutschland wurde
er schärfstens verurteilt, dem Staat Israel wurde „bedingungslose“ Unterstützung
zugesichert.
Doch: Welcher Staat Israel ist gemeint? Der Staat in seinen von der UN anerkannten
Grenzen von 1967? Oder der Staat Israel einschließlich der seither von ihm
annektierten Gebiete? Der Staat Israel einschließlich der völkerrechtwidrig
errichteten Siedlungen? Und um welche Art Staat handelt es sich? Jene viel
gepriesene „einzige Demokratie im Nahen Osten“ oder einen Staat auf der
Grundlage des Nationalstaatsgesetzes von 2018, von dem Premierminister
Netanjahu sagte „Israel ist nicht der Staat aller seiner Bürger … sondern des
jüdischen Volkes – und nur dieses.“? Ein Staat, dessen derzeitiger Finanzminister
Smotrich sich selbst als Faschisten bezeichnet? Ein Staat, in dem der
Sicherheitsminister Ben Gvir die Auslöschung der Kleinstadt Huwara verlangt? Ein
Staat, dessen angekündigte Bodenoffensive gegen die Bewohner des Gazastreifens
lange auf sich warten ließ, weil, so zumindest kritische Beobachter, seine Armee
damit beschäftigt war, Siedler bei ihren Attacken auf Palästinenser im
Westjordanland, beim systematischen Entwurzeln von Olivenbäumen, beim
Zerstören von Dörfern, beim Stehlen von Schaf- und Ziegenherden, beim Vertreiben
der Bewohner zu schützen, ja zu unterstützen? Noch vor dem Angriff der Hamas
wurden allein im West-Jordanland über 200 Palästinenser getötet.
Während der Angriffe vom 7. Oktober und noch danach verteilte der israelische
Sicherheitsminister in den besetzten Gebieten hunderte von Sturmgewehren an
gewaltbereite Siedler! Eine neue ethnische Säuberung ist also längst im Gange. Und
die von Israel beförderte Flucht der Bewohner des Küstenstreifens nach Süden: Ist
sie Vorbereitung für eine neue, massenhafte Vertreibung, da doch der „Transfer“ der
palästinensischen Bevölkerung in benachbarte arabische Staaten seit Jahrzehnten
Thema der israelischen Politik ist?
„Vergeltung“, Rache und Hass erscheinen als die Gebote der Stunde. Der Schuldige,
der Einfachheit halber allein die Hamas, steht eindeutig fest, kollektive „Bestrafung“
erscheint moralisch gerechtfertigt. Ja, dieser Angriff ging von den Palästinensern aus.
Ja, das Verhalten vieler Angreifer war barbarisch. Doch der Angriff kam nicht aus
heiterem Himmel: Seit 2008 wurden – vor allem in den Gaza-Kriegen – fast 4000
Palästinenser getötet. Die Lebensbedingungen in diesem Freiluftgefängnis sind seit
rd. 15 Jahren unerträglich: Ab 2020 bezeichnen die UN den Gaza-Streifen als
unbewohnbar: 95% des Wassers hat keine Trinkwasserqualität, das Abwassersystem
wurde 2014 bombardiert und zerstört …
Israels erklärte Absicht ist es, die Hamas zu vernichten – Grund des grausamen
Gewaltausbruchs am 7. Oktober sind jedoch Besatzung, Rechtlosigkeit,
Siedlungsbau, Apartheid. Welcher Grad der Verzweiflung die Bevölkerung erfasst
hat, zeigen jene Eltern in Gaza, die die Arme und Beine ihrer Kinder mit deren
Namen beschriften, damit, wenn das schier Unausweichliche geschieht, ihre Leichen
nicht namenlos in einem der vielen Massengräber verscharrt werden.
An diesem Grauen sind wir nicht unbeteiligt. Die israelische Journalistin Amira Hass
hat klare Worte für das deutsche Vorgehen gefunden. In „Haaretz“ schrieb sie: „Ihr
Deutschen habt eure Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, längst
verraten … Ihr habt sie verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israel,
das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei
Millionen Gazaer in einen überfüllten Käfig sperrt, Häuser abreißt, ganze Gemeinden
aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert.“
Kritik an der „bedingungslosen Unterstützung“ solcher Politik ist kein Antisemitismus!