Sendung 556 vom 26.08.2021
Hallo liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Unter den Bürgermedien ist ein neuer Ähnlichkeitswettbewerb ausgebrochen: Wer findet den passenden Vergleich zum afghanischen Debakel der NATO? Im Angebot sind Vietnam 1975, Versagen in Pandemie und Flut 2020 und 2021, Mossul 2014, Suez 1956. Das erspart, die Hinterlassenschaft speziell der vergangenen 20 Jahre in Afghanistan zu betrachten. Über Hunderttausende tote Afghanen redet keiner, die Ministerkarikatur Heiko Maas oder die düstere Fanatikerin Annegret Kramp-Karrenbauer gelten als wichtiger.
Eine Ausnahme ist die FAZ, die am Freitag unter der Überschrift „Afghanistan vom Hunger bedroht“ in ihrem Wirtschaftsteil berichtete: „Die UN-Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO schrieb in einem kürzlich vorgestellten Bericht, daß im Mittelwert der Jahre 2018 bis 2020 etwa 25,6 Prozent der Bevölkerung Afghanistans unter Unterernährung leiden oder etwa 9,7 Millionen Menschen. Der Anteil der Unterernährten lag deutlich niedriger als in den Vergleichsjahren 2004 bis 2006, mit einer Quote von 36,1 Prozent. Doch die Zahl der unterernährten Afghanen ist bis heute konstant geblieben, da inzwischen die Bevölkerung kräftig gewachsen ist.“
Solche Meldungen erhalten im politischen Betrieb Berlins keine Aufmerksamkeit. Unruhe bewirken allein Gerüchte über angeblich Millionen, die sich auf den Weg nach EU-Europa machen. Da wird vorgesorgt: „Die Türkei will sich mit einer militärisch geschützten Mauer von Iran abschotten. Bis Ende 2021 sollen die ersten 64 Kilometer fertig sein. In einer Rede am vergangenen Sonntag warnte Präsident Erdogan, daß die Türkei mit einer wachsenden Migrationswelle von Afghanen konfrontiert sei, die über Iran kommen. Bis vor kurzem brachte die Türkei noch Zehntausende Menschen in Flugzeugen nach Afghanistan zurück“, berichtet die FAZ. Finanziert wird die Anlage so wie die mehrere hundert Kilometer lange Mauer an der türkisch-syrischen Grenze zum großen Teil aus Brüssel. Polen errichtet Stacheldrahtverhaue an der Grenze zu Belarus, Litauen baut einen Grenzzaun – die „Festung EU“ nimmt Gestalt an.
Staatliche Zerrüttung, Raub aller Mittel für ein geordnetes Zusammenleben und eine auf diese Weise ohnmächtig gemachte Bevölkerung – das ist gewolltes Resultat der Feldzüge, die die USA und ihre Verbündeten seit 30 Jahren fast ohne Unterbrechung anzettelten und verloren. Da läuft eine Räuberbande seit dem Untergang der sozialistischen Länder Amok. Stabilität und Frieden in befreiten oder gar sozialistisch orientierten Ländern gelten als Bedrohung. Sie könnten das globale Kräfteverhältnis noch schneller verändern, als es schon der Fall ist.
Also wird gebombt, werden dschihadistische Terrororganisationen bis in chinesische Provinzen hinein finanziert und bewaffnet, wird geklaut, was sich greifen lässt. Der afghanische Staat z. B. hat neun Milliarden US-Dollar (etwa 7,7 Milliarden Euro) an Devisenreserven, darunter eine Milliarde Dollar in Gold, bei der Federal Reserve Bank in New York geparkt. Nun hieß es aus dem Weißen Haus, dass die Vermögenswerte „den Taliban nicht verfügbar gemacht“ werden. Unabhängig davon, ob ihnen das Vermögen zu überlassen ist: Was geht das Washington an? Und was ist mit dem gestohlenen Geld Venezuelas, Nicaraguas oder Kubas?
In Afghanistan und anderswo gibt es kein Versagen westlicher Staaten, vielmehr die Folgen ihrer „normalen“ Existenzweise. Sie gewinnen nirgendwo und ziehen daraus die Konsequenz, nun den „echten“ Krieg mit einer Großmacht anzustreben. Wer absteigt, aber größenwahnsinnig bleibt, für den ist Afghanistan nur ein lästiger Kostenfaktor. Die Bevölkerung hat noch nie interessiert.
Tausende verzweifelte Menschen versuchen derweil nach dem aktuellen Erfolg der Taliban Afghanistan zu verlassen und sterben sogar weil sie sich an Flugzeugen festklammern und dann in die Tiefe stürzen. Doch in Deutschland werden die Bundeswehr-Soldaten, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan im Einsatz waren, zunehmend als Opfer des Abzugs dargestellt.
Am 4. September wird es sich zum zwölften Mal jener Einsatz von Kunduz jähren, bei dem mindestens 90 Menschen uns Leben kamen, weil Oberst Klein von der Bundeswehr trotz Warnungen, daß sich Zivilisten an dem Ort aufhielten, auf zwei zunächst von den Taliban gekaperte Tanklastzüge feuern ließ, nachdem diese im Schlamm stecken geblieben waren. Der verantwortliche Oberst wurde dafür nie bestraft, sondern später zum General befördert, die Angehörigen der Opfer bekamen keine Entschädigung.
Dafür sind militärfreundliche Medien bemüht, die Geschehnisse von Kunduz neu zu bewerten. Grundlage ist eine Stellungnahme von Ulrich Herrmann und Harald Reiter, zwei Richtern des Bundesgerichtshofs, die die Berichterstattung über die Toten von Kunduz als Propagandaerfolg der Taliban bezeichnen.
Sie bezweifeln die Zahl der Getöteten und bestreiten, daß darunter viele Zivilisten waren. Dabei berufen sie sich auf Militärquellen, die ein klares Entlastungsinteresse haben. Für die beiden Richter sind nur zwölf oder maximal 13 Tote belegt. Wenn die beiden Richter aber die Zahl der belegten Opfer auf maximal 13 herunterrechnen geht es darum, die Bundeswehr reinzuwaschen.
Deshalb gab es vor einigen Wochen bereits eine Kampagne für eine Ehrung der aus Afghanistan abgezogenen Bundeswehr-Soldaten. Über Tage gab wurde von militärnahen Kreisen die Kritik ventiliert, daß Politiker die aus Afghanistan zurückgekehrten Soldaten nicht mit militärischen Ehren begrüßt haben. Deshalb sollte es am 31. August vor dem Reichstag einen öffentlichen Zapfenstreich geben, der nun angesichts der Ereignisse in Afghanistan verschoben, aber nicht abgesagt wurde.
Ein antimilitaristisches Bündnis, das Proteste gegen den Zapfenstreich geplant hatte, bereitet sich jetzt auf den noch unbekannten „Tag X“ vor. Der 4. September wäre eine gute Gelegenheit, um an die Toten von Kunduz zu erinnern, für die niemand zur Verantwortung gezogen wurde und die jetzt noch nachträglich heruntergerechnet werden sollen.
Ein solches Gedenken müßte sich dagegen richten, daß die Bundeswehr zum eigentlichen Opfer des Afghanistan-Desasters gemacht wird. Sonst könnte das zu einer modernisierten Dolchstoßlegende werden. In der Weimarer Republik suggerierten rechte Kreise, eine eigentlich siegreiche Armee wäre im Hinterland Deutschland von streikenden Arbeitern und kriegsmüden Massen erdolcht wurden.
Diese antisemitisch unterlegte Dolchstoßlegende war ein Schwungrat für den Aufstieg der völkischen Rechten und des NS. Heute wird behauptet, die Bundeswehr wäre in Afghanistan eigentlich erfolgreich gewesen und mußte abziehen, weil sie sich wankelmütige Alliierten, vor allem die USA beugen mußte. Schon hat der Unionspolitiker Norbert Röttgen einen eigenen Einsatz der Bundeswehr unabhängig von den USA in die Diskussion gebracht.
Dieser Vorstoß hatte zum Glück keinen Erfolg. Doch hier könnte die Grundlage für einen neuen deutschen Militarismus gelegt werden. Dafür muß der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr als Erfolg verkauft werden, der von Alliierten hintertrieben wurden. Dafür müssen natürlich auch die Opfer der Bundeswehr kleingerechnet werden.
Es wäre die Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit, dieses Bild in Frage zustellen.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder.
Quellen:
Junge Welt
Telepolis