Sendung 513 vom 02.07.2020
Hallo liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Der Bundestag hatte Sitzungswoche. Vom 17. bis 19.Juni beriet er 40 Einzelpunkte im Schnelldurchgang. Ein Blick auf die wichtigsten zeigt: Alles Vernünftige wird weggefegt, Krieg und Überwachung werden im Schatten der Corona-Pandemie forciert.
Den Antrag der Partei „Die Linke“ „Atomare Aufrüstung verhindern – New-Start-Vertrag erhalten“ ereilte das gleiche Schicksal wie ein ebenfalls von der Linksfraktion eingebrachter Antrag, den Mindestlohns auf 12 Euro die Stunde zu erhöhen – beide Papiere wurden nach 20 Minuten Aussprache an den jeweiligen Fachausschuss verwiesen.
Mehr Zeit nahm sich die Bundesregierung für die Verlängerung verschiedener Kriegseinsätze der Bundeswehr. Für den Kosovo ist das „militärische Engagement“ jetzt „zeitlich unbegrenzt“. Das „Militärische Nachrichtenwesen“ rückt mit dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) zusammen. Und deutsche Kriegsschiffe dürfen – vorerst – bis Ende Juni 2021 vor der Küste des Libanon patrouillieren. Der Einsatz der 300 Marinesoldaten verursacht Zusatzkosten von 33,8 Millionen Euro.
Im Eilverfahren – 50 Minuten für die zweite und dritte Lesung – wurde das „Gesetz gegen Hass im Netz“ mit den Stimmen der Großen Koalition verabschiedet. Internet-Provider werden darin verpflichtet, „Hass-Postings“ zu erfassen, zu sammeln und zusammen mit der User-Identifizierung – IP-Nummer, E-Mail-Adresse, Passwort – an das Bundeskriminalamt weiterzuleiten. Dort werden eventuell vorliegende Straftaten wie Beleidigung, Verleumdung, Drohung, Volksverhetzung geprüft. Das ist die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Die Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook werden künftig keine Vorabprüfung mehr vornehmen, sondern die Posts an das BKA weiterleiten, sobald der eingesetzte technische Algorithmus einen „verdächtigen“ Begriff oder eine ebensolche Wortkombination meldet. Was mit den Daten geschieht, die als nicht relevant eingeschätzt werden, bleibt ebenso im Dunkeln wie die Frage, welche Dienste sie noch bekommen. Überprüft werden soll das Gesetz nicht mehr: „Eine Evaluierung erscheint im Hinblick auf die geringen Folgekosten der Regelungen nicht erforderlich.“
Eine Initiative von den Grünen und der Linken gegen den Missbrauch der sogenannten Corona-App ging unter. Vor Kurzem war bekannt geworden, dass verschiedene Firmenleitungen Arbeiter und Angestellte zur Nutzung der App verpflichten wollen und Veranstalter darüber nachdenken, künftig nur App-Nutzer einzulassen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte das nicht mitbekommen und sah keinen Anlass zur gesetzlichen Regelung: Jeder könne „sich frei entscheiden, die App auf sein Smartphone herunterzuladen und könne sie auch wieder löschen“.
War sonst noch was? Die Feierstunde zum 17. Juni 1953 einte alle im Parlament vertretenen Parteien. Eine willkommene Gelegenheit, die DDR mit der alten Mär vom „Unrechtsstaat“ zu belegen oder zu erklären, „die Implosion des Sozialismus sowjetischer Prägung“ im Herbst 1989 sei „völlig zu Recht“ erfolgt“.
Rassismus und Armut töten. Im Fall eines in der Nacht auf Sonntag vergangener Woche gestorbenen Göttingers war die Ursache unterlassene Hilfeleistung. Seit Donnerstag davor ist das Haus, in dem der Mann wohnte, wegen eines Corona-Ausbruchs komplett abgeriegelt. Die Lebensgefährtin des Mannes bat die Beamten, die das Gebäude bewachen, medizinische Hilfe zu holen, ihr Freund leide unter Atemnot. Als eine Stunde später Rettungskräfte auftauchten, war der Mann tot. Covid-19 hatte er nicht.
Die Corona-Pandemie trifft auch in Deutschland vor allem arme, oft Migrantenfamilien der Arbeiterklasse. Sie sind es, die in Kurzarbeit geschickt werden, die ihre oft mies bezahlte Arbeit verlieren, und wenn sie aus dem EU-Raum stammen, damit auch ihre Freizügigkeitsberechtigung. Denn die ist an Arbeit gekoppelt, Sozialleistungen sind nicht vorgesehen. Wer weniger als fünf Jahre in Deutschland lebt, muss ohne Arbeit technisch gesehen ausreisen. Und sie sind diejenigen, die in ihren Wohnstätten eingesperrt werden, auch wenn sie nicht infiziert sind. Um die „Bevölkerung“ zu schützen – wer arm oder Migrant ist, gehört anscheinend nicht dazu.
Die Geschehnisse in Göttingen sind dafür nur ein Beispiel: Es begann im Iduna-Zentrum, einer Wohnanlage in Uni-Nähe. Früher Vorzeigeprojekt mit Sauna und Schwimmbad, heute schimmelige Wohnanlage für „sozial Benachteiligte“. In der Anlage leben inzwischen 700 Menschen. Ende Mai/Anfang Juni breitete sich Covid-19 im Iduna-Zentrum aus.
Die Stadtverwaltung verbreitete, Großfamilien hätten das muslimische Zuckerfest ohne die Einhaltung der Regeln zur Bekämpfung der Pandemie gefeiert und Jugendliche hätten sich in einer illegal geöffneten Shisha-Bar getroffen. Die betroffenen Familien, deren Namen inzwischen in der gesamten Stadt bekannt sind, und die Moschee-Gemeinde schildern eine andere Version der Ereignisse. Der Besitzer der Shisha-Bar veröffentlichte seine Kommunikation mit der Stadtverwaltung zur Öffnung des Ladens – sie war legal. Die Moschee veröffentlichte Bilder des Zuckerfestgebetes. Abstandsregeln wurden eingehalten, Mund-Nasen-Schutz getragen. Die Bewohner klagen über den Rassismus, mit dem ihnen entgegengetreten wird.
Eine Übereinstimmung in den Darstellungen von Stadt und Bewohnern gab es dennoch: Ein Infizierter hatte sich nicht an die Quarantäne gehalten, die Bewohner riefen die Polizei, diese zeigte kein Interesse daran, den Hinweisen rechtzeitig nachzugehen.
Die Folgen sind für die ganze Stadt spürbar. Alle Schulen schlossen für zwei Wochen, den arbeitenden Eltern wurde der letzte Nerv geraubt, Kleingewerbetreibende hatten weitere Verluste, die bundesweiten Lockerungen wurden in Göttingen verspätet umgesetzt.
Beim zweiten Ausbruch in einem anderen Gebäude wollte die Stadt „behutsamer“ vorgehen. Das Motto war: „Keine Stigmatisierung, aber auch kein Shutdown“. Die Adresse der Wohnanlage sollte nicht bekannt, Begriffe wie „Großfamilien“ vermieden werden. Dennoch war am zweiten Tag klar, um welches Gebäude es sich handelt: die gesamte Anlage mit 700 Bewohnern, darunter 200 Kinder, eingepfercht in Ein- bis Zweizimmerwohnungen, wurde unter Zwangsquarantäne gestellt – obwohl 83 Prozent der Bewohner negativ getestet worden waren. Gepanzerte Polizisten riegelten das Haus mit Bauzäunen ab und bewachte diese. Ziel der von der SPD und Grünen geführten Stadtverwaltung: einen Shutdown um jeden Preis zu vermeiden. Dass sich unter der Quarantäne Nicht-Infizierte anstecken, führte nicht zum kritischen Nachdenken der Stadtverwaltung.
Die Bewohner des Hochhauskomplexes wurden von der Härte der Maßnahmen überrascht, die Versorgung ist nach ihren Angaben schlecht, teilweise sollen abgelaufene Lebensmittel verteilt worden sein. Außerdem gab es Probleme bei der Versorgung mit Säuglingsnahrung und Windeln. Letzteres veranlasste einen verzweifelten Vater dazu, einen Ausbruchsversuch zu wagen – er wurde brutal in die Wohnanlage zurückgezwungen. Die Stimmung im Haus ist explosiv. Während einer Kundgebung der Basisdemokratischen Linken – IL zur Mietpolitik vor dem Gebäude kam es zu einer Solidarisierung zwischen Demonstranten und Anwohnern. Die Polizei ging hart gegen die Anwohner vor, die sich das Eingesperrtsein nicht länger gefallen lassen wollten. Unter anderem wurde Pfefferspray gegen Kinder eingesetzt.
Die Situation in Göttingen zeigt deutlich die Verhältnisse in diesem Land. Migrantische Menschen aus der Arbeiterklasse leben dicht beisammen, Abstandsregeln können unmöglich eingehalten werden. Ein Hochhaus voller Luxusapartments hätte man vermutlich nicht abgesperrt.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder.