Sendung 303 vom 12.12.2013
Willkommen liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Am vergangenen Wochenende, vom 6. bis 8. Dezember, fand in Kassel zum 20. mal der bundesweite und internationale Friedensratschlag statt, zu dem sich, Sturmtief Xaver und ausgefallener Zugverbindungen zum Trotz, 350 Friedensaktivisten aus ganz Deutschland und dem Ausland einfanden.
Zum Auftakt wurde das 20. Jubiläum des Friedensratschlags bei einer Veranstaltung mit dem Titel „Und sie schlagen sich die Köpfe blutig um die Beute, nennen einander gierige Tröpfe und sich selber: gute Leute“ gefeiert. Ein kulturell hervorragen gelungener Abend in einem mehr als übervollen Veranstaltungsraum, bei dem Lieder, Gedichte und Prosa von Brecht, Tucholsky, Karl Kraus und anderen vorgetragen wurden.
Die eigentliche zweitätige Hauptveranstaltung stand unter dem Motto „100 Jahre Weltkriege – 100 Jahre Friedensbewegung: Umbrüche und Kontinuität“ und begann am Samstag mit zwei Plenarvorträgen. Der Erste ging auf die Ursachen des Ersten Weltkriegs ein und erläuterte seine ökonomischen und ideologischen Voraussetzungen. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit der Frage, was 100 Jahre später weiterhin wirksam ist.
Der zweite Vortrag widmete sich einem der längsten und kompliziertesten Konflikte der Welt: dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Seine Wurzeln reichen in die zunächst friedliche Ansiedlung von Juden in Palästina – das nicht als Staat existierte – und erhielt seine bis zum heutigen Tag bestimmende Brisanz durch den Teilungsplan der UNO 1947, mit der Gründung des Staates Israel, dem ersten israelisch-arabischen Krieg und – vor allem – dem 6-Tage-Krieg 1967 und der anschließenden Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens sowie der völkerrechtswidrigen Siedlungstätigkeit.
Ein Höhepunkt des Tages war ein Vortrag im Hörsaal der Uni Kassel. Es ging hierin um die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik. Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie zeigt auf, warum die Tragödie von Lampedusa vor wenigen Wochen – nur die „Spitze eines Eisbergs“ ist, wenn man an die 20.000 Flüchtlinge denkt, die im Mittelmeer in den letzten 20 Jahren ums Leben gekommen sind. Sie entsteht und wird genährt, folgerichtig laut seinen Ausführungen, aus der EU-Abschottungspolitik. Theoretisch führte er diese Politik der kapitalistischen Staaten auf deren Abhängigkeit vom Akkumulations- und Wachstumsregime zurück: Der Staat, so seine Ableitung, sei zur Finanzierung seiner Aufgaben (vom Kindergarten bis zum Militär) auf Steuereinnahmen angewiesen und die gebe es nur, wenn die Wirtschaft wachse und genügend exportiere. Praktische Hilfe für Flüchtlinge bewertete er als nette moralische Geste, sie sei aber (aus der Sicht des Systems) ebenso abzulehnen wie eine generelle Öffnung der europäischen Grenze. Er führte detailliert aus, dass Europa, z. B. mit seinen Exportsubventionen für Güter nach Afrika, die Länder mit Gütern zu Dumpingpreisen überschüttet. So sind selbst afrikanische Artikel nicht konkurrenzfähig, wodurch im Endeffekt die Armut erzeugt wird, die dafür sorgt, dass die Menschen keinen anderen Ausweg als die Flucht sehen. In dem Vortrag wurde die klare These aufgestellt, dass das politische und wirtschaftliche System (Europas), unter anderem mit seiner Abschottung nach außen, keine Lösung und keine Hilfe für die Menschen zulässt. Was zwar hart ist, aber der momentanen Realität entspricht.
Insgesamt 18 Workshops befassten sich am ersten Tag mit den verschiedensten Themen: Militärroboter, NATO-Kriegsführung im 21. Jahrhundert, Kampf um die Antarktis, palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung, Iran, Afghanistan, deutsche Rüstungsexport und Rüstungskonversion um nur einige zu nennen.
Ein Workshop trug den Titel Meinungsmacht für Kriegseinsätze: die Medien am Gängelband der Eliten. Gegenstand eines Vortrags des Medienwissenschaftlers Dr. Uwe Krüger vom Studiengang Journalistik an der Uni Leipzig war seine als Dissertation angenommene und publizierten Arbeit „Meinungsmacht“. Die Fakten, die empirisch belegte, raubte den Anwesenden im voll besetzten Seminarraum den Atem. Die im Zentrum der Arbeit stehenden Repräsentanten von vier führenden deutschen Leitmedien (Süddeutsche Zeitung, FAZ, Die Zeit und Die Welt) sind auf derart vielfältige Weise mit der herrschenden Politik und führenden Unternehmen bzw. ihren Stiftungen und Kuratorien verflochten, dass es gar nicht Wunder nimmt, wenn sie sich als deren Sprachrohr verstehen und in deren Interesse publizistisch tätig sind. In Leitartikeln und Kommentaren zur Außen- und Sicherheitspolitik dieser vier „Alphajournalisten“ werde in bestechender Klarheit der Standpunkt der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, und zwar ohne jede kritische Distanz. Dies sei umso erstaunlicher, als die öffentliche Meinung etwa in der Frage des Afghanistankriegs oder anderer deutscher Auslandseinsätze der veröffentlichten Meinung so diametral entgegenstehe. Seine Medienanalyse bot zugleich einen aufschlussreichen Einblick in die Netzwerke der deutschen Elite.
Der erste Vortrag am Sonntag beschäftigte sich mit den Hintergründen und Besonderheiten des deutschen Militarismus, historisch bis heute. In den sechs darauf folgenden Workshops war unter anderem einer von Prof. Dr. Werner Ruf, den wir in einer vorigen Sendung die Ehre und Freude hatten zu interviewen.
Ein weiterer Workshop beschäftigte sich mit der hochaktuellen Frage, ob wir mehr oder weniger EU-Europa brauchen. Die Europaabgeordnete Sabine Lösing und Leo Mayer vom isw-Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung waren die Referenten. Moderiert wurde vom hessischen Landtagsabgeordneten Willi van Ooyen, der die rege Beteiligung und Nachfrage der Workshopbesucher souverän und professionell leitete.
Die Veranstaltungstage endeten mit einer Podiumsdiskussion um die Frage, ob sich die Geschichte 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs wiederhole oder eben nicht wiederhole, diskutierten aus verschiedenen Blickwinkeln von Thomas Wagner (Redakteur des Feuilletons der „jungen Welt“), Dr. Sabine Schiffer, Berlin/Erlangen, vom Institut für Medienverantwortung und Bruno Kern, Mainz, von der „Initiative Ökosozialismus“. Bruno Kern bezeichnete den Ersten Weltkrieg als ersten industriellen Massenkrieg in der Menschheitsgeschichte. 100 Jahre danach treibe die Menschheit auf eine erneute Katastrophe zu, dann nämlich, wenn der kapitalistische Raubbau an natürlichen Ressourcen einschließlich nicht erneuerbarer Energien ungebremst weitergehe und die Konkurrenz um die knappen Güter kriegerisch ausgetragen werde. Sein Vorschlag: eine geplante Deindustrialisierung und die vollständige Abschaffung von Rüstung und Militär. Damit müsse selbstverständlich eine komplette Änderung unserer Lebensweise einhergehen. Sabine Schiffer hob auf die Funktion der Medien (damals wie heute) bei der Kriegsvorbereitung ab. Kollektive Identifikationsmerkmale und Feindbilder sowie gezielte Lügen gehören zum Arsenal der Kriegsbefürworter und -profiteure. Dagegen helfe nur Aufklärung – und das auf allen zur Verfügung stehenden „Kanälen“, welche die Neuen Medien bieten. Thomas Wagner knüpfte in seinem Beitrag am Referat von David Salomon vom Vortag an, indem er dessen Imperialismusbegriff übernahm und auf das 21. Jahrhundert übertrug. Er sah die Menschheit schon heute in einem „Dritten Weltkrieg“, der allerdings nicht innerhalb der Ersten Welt (Europa, Nordamerika), sondern überwiegend in der Peripherie ausgetragen werde. Kampfdrohnen, die über Gebiete in Afghanistan, Pakistan, Jemen oder Somalia kreisen und jederzeit töten können, stellen eine andauernde kriegerische Bedrohung der dort lebenden Bevölkerung dar. Der Fortschritt in Technik-, Natur- und Humanwissenschaften werde von den imperialistischen Mächten zur Herrschaftssicherung und Kontrolle der Welt genutzt. Die Grenzen zwischen „kaltem“ und „heißem“ Krieg seien heute weitgehend entfallen.
Damit endete eine, wie immer rundherum gelungene Veranstaltung, die jedem an Frieden und Politik interessierten eine Menge an Hintergründen, Anregungen, Informationen und Wissen mitgab. Gleichzeitig verlies man die die Örtlichkeiten der Uni Kassel mit der Gewissheit seine Freizeit nicht vergeudet, sondern informativ, produktiv und sinnvoll genutzt zu haben.
Wir wünschen ihnen eine schöne Weihnachtszeit, einen guten Rutsch ins neue Jahr und sehen uns im neuen Jahr wieder!
Quellen:
AG-Friedensforschung
(www.ag-friedensforschung.de)