Sendung 183 vom 16.09.2010
Guten Tag liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich begrüße Sie zu Folge 183 von „Die Vergessenen dieser Welt!“. Die heutige Sendung beschäftigt sich mit der Deutschen Bahn…
Die Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung bieten den Opfern der „Reichsbahn“-Deportationen pro Überlebenden maximal 20 (zwanzig) Euro an. Die Auszahlung soll über mehrere Jahre gestreckt werden, so dass sich die Entschädigung der Anspruchsberechtigten, die in hohem Alter sind, durch Tod erledigt. Wer übrig bleibt, würde von der DB AG pro Monat etwa 55 Cent erhalten. Der Betrag gilt den gesundheitlichen Folgen der „Reichsbahn“-Beihilfe zum größten Menschheitsverbrechen, das über drei Millionen Bahn-Deportierte in die Konzentrations- und Zwangslager führte. Für die „Vermittlung“ des DB-Angebots hat sich der gegenwärtige Vorstand der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ hergegeben. Wie es in einem Memorandum heißt, das die Bürgerinitiative „Zug der Erinnerung“ veröffentlichte, löst das DB-Angebot „unter den Betroffenen Unruhe aus und beleidigt die Opfer, deren soziale Lage sie zur Annahme nötigt.“ Der mit der Bundesregierung abgestimmte Betrag sei „geeignet, sowohl in Deutschland wie im europäischen Ausland und weltweit Empörung hervorzurufen.“ Das an die Außenministerien und die Öffentlichkeit der ehemals okkupierten Staaten gerichtete Memorandum verlangt die umgehende Auszahlung eines Betrages, der an den Deportationseinnahmen der „Reichsbahn“ orientiert ist. Für den Spätherbst und Winter ruft der „Zug der Erinnerung“ zu Protesten auf den deutschen Bahnhöfen auf.
Laut einem 2009 veröffentlichten Gutachten erhob die „Reichsbahn“ für ihre Beihilfe zum Massenmord Beförderungsentgelte, die den Opfern Zahlungen in Millionenhöhe auferlegten. Die Gelder wurden an den Ausgangsbahnhöfen der Verschleppungen als Fahrkarten erhoben, bei den Vertretungskörperschaften der Deportierten in Form von Sammelrechnungen eingezogen oder den Finanzbehörden der okkupierten Staaten zum Zwangsausgleich vorgelegt. Als minimalen Einnahmebetrag, der über die „Reichsbahn“-Konten dem „Reichsverkehrsministerium“ und damit dem deutschen Staat zufloss, nennt das Gutachten 445 Millionen Euro heutiger Währung.
Erbin dieser Einnahmen ist die Bundesrepublik Deutschland, die zugleich Alleineigentümerin der DB AG ist. Aber weder der deutsche Staat noch die Unternehmensnachfolger der „Reichsbahn“ haben in den vergangenen 61 Jahren Anstrengungen unternommen, die Schulden zurückzuzahlen. Wie das „Memorandum über die Hilfe für Opfer der ‚Reichsbahn‘-Verbrechen“ feststellt, sind im Berliner Finanzministerium inzwischen 2,2 Milliarden Euro aufgelaufen, wenn eine Verzinsung in Höhe von 2,5 Prozent seit 1945 zugrundegelegt wird.
Um den Forderungen der überlebenden „Reichsbahn“-Opfer zu entgehen, behauptet das Finanzministerium, sämtliche Deportierten seien bereits entschädigt worden – eine lügenhafte oder ahnungslose Behauptung, da die Bundesregierung im Parlament zugeben musste, dass sie noch nicht einmal die Anzahl der Anspruchsberechtigten kennt. Über die „Reichsbahn“-Verschleppungen liegt Berlin angeblich kein Datenmaterial vor.
Um der deutschen Seite entgegenzukommen, hatten Opferorganisationen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland im März 2010 keinerlei Rechtsansprüche geltend gemacht, sondern Bahn und Bundesregierung lediglich um eine „humanitäre Geste“ gebeten. Von diesem Ansatz versprachen sie sich ein schnelles Einlenken des DB-Vorstands, der den gegenwärtigen Vorsitzenden der Unternehmens- und Staatsstiftung EVZ, Günther Saathoff, als „Vermittler“ einspannte. Den Opferorganisationen wurde auferlegt, Stillschweigen zu bewahren, so dass eine aktive Unterstützung der Öffentlichkeit behindert wurde.
Weil sie auf ein Einvernehmen mit den „Reichsbahn“-Nachfolgern hofften, willigten mehrere Opferorganisationen in das konspirative Vorgehen ein. Ihre Gutgläubigkeit zahlte sich nicht aus. Im August 2010 präsentierte der Verhandlungsführer der deutschen Seite das inzwischen unwesentlich nachgebesserte Angebot: maximal 20 Euro je osteuropäischem Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen, verteilt auf drei Jahre. Bei mindestens 200.000 Anspruchsberechtigten sollen sich die in hohem Alter befindlichen Opfer mit einem Monatsbetrag von 55 Cent zufrieden geben. Wegen der erheblichen Sterberate dürften nach Ablauf der drei Jahre nur noch 150.000 Empfänger die reich gefüllten Kassen der DB AG belasten.
Das Unternehmen hat Reisenden, die im Juli 2010 Ansprüche wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen in überhitzten ICE-Zügen anmeldeten, pro Person 500 Euro ausgezahlt. Der Gesamtbetrag, den der DB-Vorstand deswegen bewilligte (etwa drei Millionen Euro), entspricht fast genau der Summe, die derselbe Vorstand für die Folgen der NS-Deportationen als zahlbar und angemessen betrachtet. Demnach ist das stundenlange Schwitzen bei hohen Temperaturen um den Faktor Tausend werthaltiger als die zwangsweise Verfrachtung Hunderttausender in überfüllten Viehwaggons, die über mehrere Tage von der „Deutschen Reichsbahn“, dem Unternehmensvorläufer der DB AG, verplombt und ohne Nahrung nach Theresienstadt oder Auschwitz gezogen wurden.
Das DB-Angebot lässt sich an weiteren Finanzentscheidungen des deutschen Staatsunternehmens messen: 2,6 Milliarden Euro investieren DB und Verkehrsministerium in den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, 2,8 Milliarden stehen zur Verfügung, um den britischen Konkurrenten ARRIVA zu übernehmen. Auch für die DB-Expansion nach Polen und in andere osteuropäische Staaten ist Geld reserviert. Dort will die DB von der EU-Liberalisierung des Schienenverkehrs profitieren.
Das angestrebte Geschäft auf Kosten der NS-Opfer stößt in der Bundesrepublik auf Widerstand. Der „Zug der Erinnerung“ fordert einen Runden Tisch unter Beteiligung der in Deutschland lebenden „Reichsbahn“-Geschädigten. Die DB solle außerdem zusagen, Ehrungen der ermordeten Deportierten auf den deutschen Bahnhöfen finanziell mitzutragen.
Guten Tag
Quelle: German Foreign Policy