Sendung 193 vom 02.12.2010
Guten Tag liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich begrüße Sie zu einer neuen Folge von „Die Vergessenen dieser Welt!“. Die heutige Sendung ist übertitelt mit Säuberungen.
Brasilianische Sicherheitskräfte haben am Sonntag ein Armenviertel in Rio de Janeiro unter ihre Kontrolle gebracht, in dem sich angeblich bis zu 600 Drogenhändler verschanzt hielten. Wie es hieß, seien 40 Tonnen Marihuana sichergestellt worden.
In Rio de Janeiro herrscht Ausnahmezustand. Nachdem mutmaßliche Mitglieder von Drogenbanden zu Beginn vergangener Woche Busse und Autos im gesamten Stadtgebiet anzündeten, reagierte die Polizei mit einer Großoffensive unter Zuhilfenahme des Militärs sowie Panzern und Hubschraubern.
Am vergangenen Donnerstag stürmte sie die Favela Vila Cruzeiro, eine angeblich uneinnehmbare Hochburg der Drogenhändler. Das gesamte Gebiet, in dem mehrere hunderttausend Menschen wohnen, wurde am Samstag umstellt. Einen Tag später rückten Sicherheitskräfte ein.
Zuvor hatte Präsident Inácio Lula da Silva die Entsendung von 800 Soldaten und schwerem Gerät bewilligt, um die der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sergio Cabral, gebeten hatte. Dieser kündigte an, »das Territorium des Drogenhandels« werde der organisierten Kriminalität entrissen. »Wir werden die Armenviertel befrieden,« so Cabral.
Fraglos sind die Drogenbanden, die seit Jahren einen großen Teil der Favelas von Rio de Janeiro mit Gewalt, Willkür und Lynchjustiz kontrollieren, ein gravierendes Problem. Auch wenn sie teilweise in eigene soziale Projekte investieren und von einigen gern als Gegenpol der armen und ausgeschlossenen Bevölkerung gegen rassistische Polizeigewalt gesehen werden, handelt es sich doch um machistische, gewalttätige Gruppen.
Sie nutzen das Fehlen staatlicher Präsenz – von Ordnungskräften als auch von sozialer oder urbaner Infrastruktur –, um in der jeweiligen Region ein eigenes Regime zu etablieren und jegliche Form sozialer Organisation zu unterbinden.
Die Polizei, die jetzt so öffentlichkeitswirksam das Verbrechen bekämpft, und teilweise auch der Staatsapparat und korrupte Politiker sind alles andere als unschuldig an der Situation. Die Polizei ist es, die oftmals für den Waffenhandel verantwortlich ist, durch den der Konflikt derart eskalieren konnte. Zumal: Je besser bewaffnet der Feind, desto mehr Geld für die Polizei.
Vor gut einem Jahr begann die Verwaltung von Cabral damit, einige Favelas in den besseren Vierteln zu besetzen und sogenannte Befriedende Polizeieinheiten (UPP) einzurichten. Nicht der erste Versuch dieser Art, doch bislang recht erfolgreich. Trotz Klagen, dass die Polizisten nach wie vor respektlos oder gewaltsam mit den Bewohnern umgehen und dass der Staat nicht mit sozialen Einrichtung Präsenz zeigt, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Ende der Bandenregime eindeutig begrüßt.
Die Frage, warum plötzlich Stadtteile erobert werden konnten, die jahrzehntelang den bewaffneten Banden nicht zu entreißen waren, lässt sich nur mit der bevorstehenden Ereignissen erklären: Bislang war es ein gutes Geschäft, den schlecht bezahlten Polizisten das Kungeln mit dem organisierten Verbrechen zu gestatten. Doch jetzt stehen die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 ins Haus. Die UPP’s sind ein Projekt zur militärischen Rückeroberung einiger Gebiete, die für die Stadt von zentralen Bedeutung sind. Es geht nicht darum, den Drogenhandel zu beenden, es geht um die militärische Kontrolle von Vierteln, die wichtig für die Olympische Spiele sind.
Es ist auch zu bezweifeln, dass der Sturm auf die Favelas Vila Cruzeiro und Complexo do Alemao zur Einführung rechtsstaatlicher Zustände führen wird. Offenbar ist es einfacher und effektiver, die Kontrolle dieser Gebiete den Milizen zu überlassen. Sie entstanden in Rio de Janeiro vor einigen Jahren im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele.
Diese paramilitärischen Gruppen, die zumeist aus ehemaligen und aktiven Polizisten und Feuerwehrleuten bestehen, erobern einen von Drogenbanden kontrollierten Stadtteil und führen ein Mafiasystem ein, das seine Einnahmen vor allem aus dem öffentlichen Transport, Kabelfernsehen, Gasverkauf und Schutzgelderpressung gewinnt.
Die Behörden stehen unter Druck, Rio bis zur Fußball-WM 2014 und zu den Olympischen Spielen 2016 sicher zu machen. Wie immer bei größeren urbanen Konflikten wird auch diesmal der Einsatz des Militärs diskutiert. Dass die Marine ihre Panzerfahrzeuge ausgeliehen hat, weil sie wehrhafter sind als die vom Volksmund als „Totenkopf“ bezeichneten Panzerwagen der Polizei, ist vor diesem Hintergrund bedeutsam.
Die Slums werden von der armen und unschuldigen Bevölkerung gesäubert. Denn „unser Dorf soll schöner werden zu Olympia und WM. Und arme stören nur. Ein neuer Akt humanitärer Säuberungen. Und keinen interessiert es.
Guten Tag
Quellen:
Frankfurter Rundschau
Neues Deutschland