Sendung 627 vom 26.10.2023
Willkommen liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Wir melden uns aus unserer urlaubsbedingten Pause zurück, während sich vieles im absoluten Chaos befindet. Deutschland rückt immer weiter nach rechts, was sich an den Wahlergebnissen der Landtagswahlen zeigt und der Tatsache, daß rechte Extremisten wie die AfD oder der hessische Boris Rhein starken Zulauf finden.
Deutschland befindet sich auf dem Weg „zurück zum Führer“ sozusagen. Denn ganz weg war er hierzulande nie. Eines der Hauptmerkmale einer Demokratie, die freie Meinungsäußerung, wird immer weiter eingeschränkt; bis zur totalen Unkenntlichkeit.
Und mittlerweile ist jede – aber auch wirklich jede – Kritik an Israel verboten und jeder der sich nicht daran hält, bekommt den Stempel Antisemit aufgedrückt. Eine lebensnotwendige wissenschaftliche historische Analyse der Ereignisse im nahen Osten ist nicht erwünscht und wird von der herrschenden Klasse mit allen Mitteln bekämpft. Wir im neoliberal/marktwirtschaftlichen Westen sind die Guten und all die Anderen die Bösen; Punkt und auf sie mit Gebrüll! Da hatten selbst die Neandertaler in der Steinzeit mehr Intelligenz.
Um so erfrischender ragen die wenigen Stimmen heraus, die der verbohrten Dummheit der Politik noch etwas intelligente Analyse entgegensetzen, aller Widrigkeiten zum Trotz.
Einer von ihnen ist der emeritierte Professor für Völkerrecht Norman Paech, der trotz aller Versuche ihn mundtot zu machen, noch immer seine klare Stimme erhebt. Aus aktuellem Anlaß der Vorkommnisse im nahen Osten zitieren wir aus einer Veröffentlichung von ihm die am 19. Oktober erschien:
Die politische Klasse, ob in der Regierung, den Parteien oder den Medien, hat offensichtlich ihr Ceterum censeo: Hamas muß vernichtet werden – um welchen Preis auch immer. Lassen wir die politische Fragwürdigkeit dieser Devise einmal beiseite, so liegt in ihr ein grundsätzlicher Fehler. Sie reduziert den Überfall und den Ausbruch der Gewalt auf die Verantwortung einer einzigen Organisation, der Hamas. Sie hat die Geschichte der kolonialen Befreiungskämpfe in Afrika vergessen, deren militärische Spitze immer von einer oder zwei Organisationen gebildet wurde. Ob die FLN in Algerien, der ANC in Südafrika, die SWAPO in Südwestafrika, die MPLA in Angola, die PAIGC in Guinea-Bissau, die Frelimo in Mosambik oder die PLO in Palästina, sie wurden alle als Terroristen bekämpft. Sie waren aber nur der politisch-militärische Arm eines Volkes, welches für seine Befreiung kämpfte. In allen diesen Befreiungskriegen hatte das internationale Recht einen verzweifelten Stand.
Politik und Medien wollen auch jetzt nicht begreifen, daß es hier in Gaza ebenso wie in der Westbank um einen Befreiungskampf des ganzen palästinensischen Volkes gegen jahrzehntelange Unterdrückung, Enteignung, Gewalt und Entwürdigung geht. Wir dürfen nicht vergessen und verdrängen, daß die palästinensische Bevölkerung die furchtbare Gewalt, die jetzt so bild- und wortreich beklagt wird, in mehr als 75 Jahren in Überfällen und Massakern von Deir Jassin bis Masafer Jatta immer wieder und geradezu täglich erfahren hat. Sie ist immer wieder dagegen aufgestanden – vergeblich. Jetzt hat die verzweifelte Situation wie bei einer Revolte im Gefängnis zu einer Explosion geführt.
Wenn Israel mit Unterstützung von USA und NATO-Bündnis darauf besteht, Hamas als Reaktion auszulöschen, zu vernichten, und sei es um den Preis Tausender ziviler Opfer Gaza in Schutt und Asche zu legen, so begeht es den zweiten Fehler: Dadurch würde der Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Gewalt der Apartheid nicht gebrochen. Man kann eine Organisation vernichten, aber nicht ein Volk. Das würden heute die UNO und ein immer noch vorhandenes antikoloniales Gewissen in der Welt verhindern. Man kann sein Rachegefühl befriedigen, aber damit nicht den Frieden sichern. Alle klassischen Kolonialmächte mußten sich aus ihren Kolonien zurückziehen. Israel, eine Siedlerkolonie, wird hier keine Ausnahme machen.
Das internationale Recht und die Menschenrechte haben in diesem Konflikt schon lange keine Rolle mehr gespielt. Sie wurden seit der israelischen Staatsgründung gegenüber dem palästinensischen Volk ständig vernachlässigt und verletzt. Israel hat nie die Genfer Konventionen für die besetzten Gebiete anerkannt. Israels Garantiemächte, vor allem die USA und die BRD, haben alle Verletzungen des internationalen Rechts gedeckt und akzeptiert. Die Internationalen Gerichtshöfe wurden erst in den letzten Jahren zur Überprüfung der Siedlungspolitik und der Kriegsverbrechen aufgefordert, was sofort aufgrund des Widerstands der Garantiemächte abgeblockt wurde.
Während die afrikanischen Völker noch in der UNO um die politische und juristische Anerkennung ihres Kampfes ringen mußten, ist dieser Kampf jetzt in den Resolutionen der Vereinten Nationen und den Zusatzprotokollen der Genfer Konventionen fest verankert. Dennoch spielen das internationale Recht und die Menschenrechte seit Beginn dieses Konfliktes nur auf Pressekonferenzen und in den öffentlichen Erklärungen der Regierungen eine Rolle. Sie existieren, konnten aber bisher zum Frieden in der Region nichts beitragen.
Die politische Reaktion gegenüber den Palästinensern in der Bundesrepublik erinnert mich an die Zeit unmittelbar nach dem Überfall der PFLP auf das israelische Olympiateam 1972 in Fürstenfeldbruck. Es herrschte eine Pogromstimmung, die viele Palästinenser veranlaßte, die Bundesrepublik zu verlassen. Wenn das größte deutsche Boulevardblatt Bild auf der ersten Seite mit der erwiesen falschen Meldung „Babys mit abgeschnittenen Köpfen“ titelt, so bleibt das lange in den Köpfen der Leser und erzeugt nachhaltigen Haß gegen alle Palästinenser. Ihre Demonstrationen und Veranstaltungen werden verboten und ihre Netzwerke mit Schließung bedroht, auch vor Abschiebung können sie nicht mehr sicher sein. Die rechtliche Basis dieser Maßnahmen ist meistens strittig, über sie entscheiden die Gerichte mal so, mal so.
Nein, diese Zeilen sind keine Rechtfertigung der mörderischen Orgie, die die Kämpfer der Hamas bei ihrem Überfall anrichteten, keine verschwiegene Zustimmung zu den Siegesgesängen auf Europas Straßen. Sie werden von der Furcht diktiert, daß das „Terrorbild“ der Hamas bei aller Grausamkeit des Überfalls den wahren Charakter dieser Gewalt als Aufstand der palästinensischen Gesellschaft verdeckt. Daß man sich weiterhin weigert, das Elend der palästinensischen Existenz sowohl in Gaza wie in der Westbank wahrzunehmen und die jahrzehntelange koloniale Besatzung und Apartheid als wahren Grund der plötzlichen Gewalt zu erkennen. Sie hatte sich seit langem angekündigt und wird durch keinen Vernichtungskrieg verschwinden.
Auf ihren Pilgerreisen nach Jerusalem werden die Regierungschefs der USA und Deutschlands nur ihre Solidaritätsadressen abliefern und für eine humanitäre Kriegführung plädieren. Sie werden es wiederum versäumen, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um das einzige Mittel zur Beseitigung der Gewalt durchzusetzen: die Besatzung aufzugeben und den Palästinenserinnen und Palästinensern die versprochene Gründung eines eigenen Staates zu ermöglichen. Zu Hause aber wird der Druck auf die arabische Bevölkerung dazu führen, den Haß gegen sie anwachsen zu lassen, sie auszugrenzen und auszuschließen. Das spaltet die Gesellschaft und fördert den Rassismus. In der Folge wird die jüdische Bevölkerung immer häufiger angegriffen und der Antisemitismus wird noch stärker werden. Schließlich wird die Gewalt zunehmen und der Einsatz der Polizei die feindliche Stimmung nicht beruhigen können. Eine nicht sehr kluge Politik mit absehbar schädlichen Konsequenzen.
Soweit Norman Paech, wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder!