Sendung 589 vom 04.08.2022
Wir begrüßen Sie, liebe Zuschauerinnen und liebe Zuschauer!
Es ist nicht zum ersten mal in der Geschichte, daß Staaten zu ihren Taten nicht stehen. Und es ist nicht zum ersten mal in der Geschichte, daß die einstigen Opfern und ihr Staatengebilde zum Tätern werden. Jedoch das Wechseln von Opferrolle in die Täterrolle ist mit Nichts zu rechtfertigen. Denn wenn man ernsthaft bemüht ist, solchen Untaten ein Ende zu setzen, verpflichtet man sich unbeirrt zu deren Aufarbeitung. Da macht ein Staat Israel auch keine Ausnahme! Denn die Erde gehört uns allen, und wir müssen zusammen dazu fähig sein, aus den Fehlern unserer gemeinsamen Geschichte nicht nur lernen, sondern eine andere Welt zu erschaffen, in der für alle Menschen einen gleichberechtigten und menschenwürdigen Platz gibt.
Die seit Wochen laufenden Turbulenzen um und während der Documenta 15 veranlassen uns die aufklärenden Persönlichkeiten reden zu lassen, die das gängige Establishment hinterfragen und dem eine andere Sichtweise entgegensetzen. Hierzu beginnen wir mit einem Zitat von Hr. Professor Werner Ruf, ein renommierter Fachwissenschaftler für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik und weltweit angesehener Friedens- und Konfliktforscher, um dann zu einem Ausschnitt aus seiner Reflexionsschrift zur Documenta 15 zu übergehen.
„Die diesjährige Kunstausstellung Documenta verfolgt ein längst fälliges, dennoch fast revolutionär anmutendes Ziel: Sie will – endlich – dem Süden des Planeten eine Stimme verschaffen, die Sicht auf die Welt (und ihre jüngste Geschichte) durch die Augen der (ehemals?) Unterdrückten zeigen. Es birgt aber natürlich Konfliktpotential, wenn der Westen damit konfrontiert wird, daß seine hegemoniale Darstellung des Weltgeschehens nicht überall geteilt wird“. Von Prof. Werner Ruf.
Hinter der hitzigen Debatte über antisemitische Inhalte der Bilder und der Frage, ob solche Bilder noch vom Prinzip der Kunstfreiheit gedeckt werden oder ob hier klar Schranken gesetzt werden müssen, verbirgt sich eine ganz andere Frage, nämlich die nach der Deutung von Geschichte bzw. nach der Definitionsmacht über Geschichtsdarstellung. Diese Frage berührt unmittelbar das der documenta 15 zugrunde gelegte Ziel, die Sicht auf unseren Planeten aus der Perspektive des Südens zu zeigen. Wen wundert die Hitzigkeit der Debatte, wenn im Zentrum dieses Narratives die Erfahrung von Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung steht?
Denn es geht um mehr als reale Erfahrung der Menschen aus dem Süden, die in das Geschichtsbild einfließt. Dahinter steht auch die Frage, wer wann und wie überhaupt Geschichte schreibt/schreiben darf: Die imperiale Weltordnung bedingt ja auch, daß Forschung und Wissensproduktion streng dem hierarchischen Gefüge entsprechen, das die in den Zeiten des Imperialismus gewachsene Weltordnung geschaffen hat: Es sind die Historiker, Anthropologen, Soziologen, Ökonomen etc. des „Westens“, die – inzwischen teilweise auch kritisch – die Gesellschaften des Südens und ihre Transformation beschreiben, Schulbücher des Südens und die Köpfe der Schüler füllen und damit „unsere“ Sicht zur weltweit einzig gültigen machen. Denn: Zur Festigung der bestehenden Herrschaftsstrukturen muß das Wissen geliefert und konsolidiert werden, mit dessen Hilfe die Reproduktion der etablierten (Welt-)Herrschaft abgesichert wird.
Die Debatte um Antisemitismus oder Kunstfreiheit überwölbt daher ein reales Problem, das genau die diesjährige documenta aufzeigen wollte: Die Deutungshoheit über Geschichte und Identität im historisch belasteten Verhältnis zwischen Nord und Süd. Es geht um den Kampf um die Köpfe, die Lufthoheit über die Deutung der Weltsicht. Vordergründig werden aus westlicher Sicht als antisemitisch interpretierbare Darstellungen denunziert. Letztlich aber geht es um die Definitionsmacht dessen, was sagbar und was unsagbar ist und die Frage, wer darüber bestimmt, wie die Welt auszusehen hat bzw. wie sie anzusehen ist.
Nirgendwo wird das in dieser Debatte herrschende Ungleichgewicht – man könnte auch sagen Nord-Süd-Gefälle – deutlicher als bei einem vergleichenden Blick auf die sogenannten Mohamed-Karikaturen: Deren Veröffentlichung, die Darstellung des Propheten des Islam als Terroristen, der in seinem Turban eine Bombe transportiert, wird in der öffentlichen Meinung und in der Rechtsprechung als von der Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt bezeichnet. Diese parteiliche Sicht auf „uns“ und „die Anderen“ scheint auch der Bundespräsident zu teilen, der eigens nach Kassel reiste, um zu erklären: Kritik an Israel sei erlaubt, „doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten“. Wo auf diesen Bildern das Judentum oder der Staat Israel in Frage gestellt werden, läßt sich aus den Bildern nicht erklären. Es wird das Geheimnis des obersten Repräsentanten unseres Staates bleiben, uns eines Tages zu erklären, wo er die Infragestellung des Staates Israel auf diesen Bildern entdeckt hat.
Autoritativ sorgen die Herrschenden dafür, daß ihre Sicht der Welt auch bei den Beherrschten gültig zu sein hat. Beispielhaft sei hier nur verwiesen auf die heftige Debatte, die seit der Präsidentschaft Emmanuel Macrons in Frankreich und Algerien über die „Erinnerungskultur“ an den Algerienkrieg geführt wird. Darum ist die Debatte um den realen oder behaupteten Antisemitismus auf den inkriminierten Bildern vordergründig. Politisches Ziel ist es, wie auch immer stärker in der Debatte artikuliert, diese Ausstellung schlechthin zu verhindern. Und wenn das diesmal nicht gelingt, so soll doch in Zukunft durch die Einschaltung neuer Entscheidungsstrukturen, durch Vergabe oder Nicht-Vergabe von Mitteln etc. dafür gesorgt werden, daß die Welt im richtigen Bild erscheint: Nicht die Stimme des Südens, der Entrechteten, der „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) soll gehört und verstanden werden, sondern die Definitionsmacht der Herrschenden wird durchgesetzt.
Die Welt-Kunstschau wird umfunktioniert, um die weltweit gültige Sicht „unserer“ humanistisch verkleideten neokolonialen Ordnung zu stabilisieren. Dies gelingt aber nur, wenn sie in den Köpfen der Beherrschten selbst verankert wird. Um dies zu erreichen, scheint die alte Figur wieder auf, die schon immer Kolonialismus und Imperialismus verkleidete als „zivilisatorische Mission“ bzw. als „des weißen Mannes Bürde“: Nur die widerspruchslose Übernahme „unserer“ überlegenen und ewig gültigen Werte vermag es, Fortschritt und Humanität zu sichern. Wirklich glaubwürdig wird dies aber erst, wenn der Süden in diesen Chor einstimmt und für die Segnungen durch die Herrschaft des weißen Mannes dankt. Und schon sind wir wieder mitten auf der documenta 15, die so nie wieder stattfinden soll.
Am 27. Juli haben Prof. Dr. Werner Ruf, em. Politologe & Friedensforscher mit dem Schwerpunkt internationale Beziehungen, Dr. Ingo Wandelt, Ethnologe & Indonesist sowie Dr. Rainer Werning, Sozialwissenschaftler & Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien einen Offener Brief an den documenta 15-Aufsichtsrat, an die Bundesregierung und an die Medien, betreffend der aktuellen Antisemitismusdebatte veröffentlicht. Der Brief ist auf unserer Homepageseite zu lesen und kann unterschreiben werden.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder