Sendung 553 vom 29.07.2021
Willkommen liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Die Standarderzählung zur gegenwärtigen Krise lautet in etwa: Eine schreckliche Pandemie ist über uns gekommen. Wir müssen alle zusammenstehen – natürlich mit Abstand. Wenn alle geimpft sind, wird alles wieder gut.
Das trifft, wie fast alle Narrative der Medien, den Sachverhalt nicht wirklich. Natürlich hat der Virusausbruch – genauer gesagt: haben die politischen Maßnahmen in der Folge des Virusausbruchs – gravierende Konsequenzen für die Menschen, vor allem in den kapitalistischen Hauptstaaten. Covid-19 hat die ganze Unfähigkeit neoliberal zugerichteter Gesellschaften offenbart, mit der derzeitigen Krise fertig zu werden. Die Ursache dieser Krise ist nicht das Virus. Der Virusausbruch ist dagegen die ideale Nebelwand, welche die katastrophalen realökonomischen Kriseneffekte – die Millionen von Arbeitslosen, die in Armut Gestürzten, die Hungernden und Pleitegegangenen – aus dem Bewußtsein verdrängt.
Die ökonomische Krise begann vor Corona, im Spätsommer 2019. Die kapitalistischen Hauptstaaten gerieten in die Rezession. Die US-Zentralbank (Fed) mußte den Markt für kurzfristige Bankkredite (Repo) mit Hunderten Milliarden US-Dollar stützen. Die Rettungsprogramme der Krise 2007 und Folgejahre hatten die ökonomischen Ungleichgewichte eher verstärkt als abgebaut. Ein neuer akuter Krisenausbruch kündigte sich an.
Das neoliberale Konzept aus Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung, Unterfinanzierung der Gesundheits- und Sozialsysteme und Entmachtung der Arbeitnehmer wurde sukzessive, mit unterschiedlicher Radikalität, in allen kapitalistischen Hauptstaaten durchgesetzt – mit gravierenden Langzeitkonsequenzen. Die Kanonisierung des Shareholder-Value sorgte für eine höchst ungleiche Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums. Dies hatte zur Folge, daß die Ressourcen selbst bei Dingen fehlten, die für eine funktionierende Gesellschaft unabdingbar sind. Die Gesundheitssysteme der neoliberalen Vorzeigestaaten USA, Brasilien, Indien und Großbritannien versagten unter Pandemiebedingungen – Millionen vermeidbarer Todesfälle waren die Folge.
Die Profitfixierung führte zu einer Globalisierung genannten Verlagerung der materiellen Produktion in die Hotspots der globalen Billigproduzenten. In den imperialistischen Staaten verschärfte die strukturelle Verarmung der Bevölkerungsmehrheit, die gigantische Umverteilung von unten nach oben, die systembedingte Überproduktion und Überakkumulation. Einerseits haben die „Oberen 0,01 Prozent“ gigantische Reichtümer angehäuft, andererseits fehlt immer mehr Menschen die Kaufkraft, selbst die nötigsten Dinge zu beschaffen. Gleiches gilt für die Staatsapparate und Sozialsysteme und in der Folge selbst für viele Unternehmen. Die fehlende gesellschaftliche Kaufkraft mußte immer mehr durch Kredite ersetzt werden. Diese Kredite akkumulieren sich zu riesigen Schuldenbergen. Im Falle der USA liegt die strukturelle staatliche Nettoneuverschuldung bei rund einer Billion US-Dollar pro Jahr – außerhalb der akuten Krisenphase. Die Billionen schweren Kosten der gegenwärtigen Doppelkrise kommen on top.
Der „Global Wealth Report“ der Credit Suisse weist für das Jahr 2020 – inmitten der Krise – einen Anstieg des „weltweiten Gesamtvermögens“ um 7,4 Prozent auf 418,3 Billionen US-Dollar aus. Davon entfielen drei Viertel auf Nordamerika und Europa.
Die unaufhaltsam steigende US-Verschuldung ist nicht das Ergebnis der politischen Entscheidungen einzelner Präsidenten, sondern sie wurde seit Beginn der neoliberalen Offensive in der Reagan-Ära progressiv steigend aufgebaut und hat längst eine Dimension erreicht, bei der die Zahlungsfähigkeit infrage steht. De facto ist das US-Imperium seit Beginn des Jahrhunderts pleite.
Die USA hatten allerdings 1944 bei der Konferenz von Bretton Woods den US-Dollar als Reservewährung für das von ihnen beanspruchte Einflußgebiet (44 Staaten) durchsetzen können. Diese Position des US-Dollar konnte in den folgenden sechs Jahrzehnten immer weiter zu einem globalen Herrschaftsinstrument ausgebaut werden. Die Fed kann beliebige Dollar-Mengen erzeugen – „drucken“ – und der „Rest der Welt“ muß dafür hart erarbeitete Produkte hergeben. Der US-Dollar und die US-kontrollierte SWIFT (Organisation zur Abwicklung der internationalen Bankgeschäfte) erlauben den USA die Kontrolle der globalen Zahlungsströme. Jeder, der bei seinen Transaktionen US-Dollar benutzt, muß sich der Washingtoner Jurisprudenz unterwerfen. Mit diesen Herrschaftsinstrumenten gelingt es dem US-Imperialismus Profite aus anderen Ländern in die USA umzuleiten und teilweise zu nutzen, um die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft zu kaschieren. Die inneren Widersprüche des monopolkapitalistischen Systems der USA werden quasi ins Ausland „exportiert“.
Ein weiteres Mittel des Widerspruchsexports ist die „regelbasierte Weltordnung“, repräsentiert durch IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation. Sie garantieren, daß die imperialistischen Staaten den Waren- und Kapitalexport sowie den Import der Profite und Ressourcen zu ihren „Regeln“ durchführen können. Die Absicherung dieser Vorherrschaft ist allerdings ohne überlegene Interventionstruppen nicht möglich. Allein die Gesamtkosten der US-Kriegsmaschine belaufen sich auf rund eine Billion US-Dollar im Jahr. Das US-Imperium und die mit ihm liierten Staaten haben ihre Ressourcen seit langem weit überdehnt.
Diese hier nur grob umrissene sozialökonomische Grundstruktur hat das neoliberale Verwertungsmodell in eine tiefe Krise gestürzt, welche die unterschiedlich neoliberal zugerichteten Staaten in unterschiedlicher Weise trifft. Nach der Krise 2007 und Folgejahre ist die 2019 einsetzende Krise der dritte große Ausbruch des neoliberalen Krisenzyklus. Die Notenpresse sollte die Probleme lösen. Die großen „westlichen“ Zentralbanken drückten seither zweistellige Billionensummen in die Finanz-„Märkte“.
Die Währungs- und Sanktionsinflation untergräbt allerdings auch eines der wesentlichsten Machtmittel des US-/EU-Herrschaftssystems: die globale Herrschaft des US-Dollar. Es gibt zunehmende Zweifel an seiner Werthaltigkeit und eine akute Notwendigkeit, sich der mit ihm verbundenen globalen Projektion der US-Jurisprudenz zu entziehen. Das historische „Vorbild“ ist das Britische Pfund (GBP), das bis zum Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Monopolstatus hatte wie heute der US-Dollar. Das Pfund verlor nach 1945 innerhalb von wenigen Jahrzehnten gegenüber dem US-Dollar rund 75 Prozent seines Wertes. Die britische Realökonomie hatte ihren führenden Status schon zur Wende zum 20. Jahrhundert eingebüßt. Gleiches gilt heute für die US-Realökonomie. Der Verlust der Währungsdominanz erfolgt in der Regel einige Zeit später. 1941 rief der „Time“-Herausgeber Henry Luce das „Amerikanische Jahrhundert“ aus – es dauerte keine 80 Jahre. Die Versuche der US-Neokonservativen, die US-Dominanz um ein Jahrhundert zu verlängern, endeten im blutigen Chaos der endlosen wie verlorenen Kriege.
Die neoliberale Gegenreformation hat in den USA und den EU-Staaten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die bürgerliche „politische Klasse“ ist weitgehend gleichgeschaltet, völlig korrumpiert und unfähig zur inneren Erneuerung. Die Arbeiterbewegung ist marginalisiert, der Reformismus hat sich zum neoliberalen Sturmgeschütz selbst degradiert. Es ist derzeit keine Kraft erkennbar, die den neoliberalen Marsch in den Abgrund aufhalten könnte.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder!
Quelle: Unsere Zeit