Sendung 479 vom 04.07.2019
Hallo liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Anders als Äußerungen im Streit um das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ suggerieren, bekämpft Berlin die Seenotrettung im Mittelmeer seit Jahren. Das belegen die Verhinderung einer EU-Seenotrettungsoperation durch die Bundesregierung im Jahr 2014, falsche Vorwürfe gegen private Seenotretter durch den früheren Bundesinnenminister Thomas de Maizière sowie die laut Berichten intern geäußerte Forderung seines Nachfolgers Horst Seehofer, strafrechtlich gegen die Besatzungen von Rettungsschiffen vorzugehen. Wegen der Verhinderung der EU-Seenotrettung auf dem Mittelmeer haben Menschenrechtsanwälte inzwischen Anzeige gegen die Bundesregierung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gestellt. Zudem hat sich Berlin stets für die „Dublin-Regelungen“ eingesetzt, die es Italien untersagen, an Land genommene Flüchtlinge in andere EU-Staaten weiterreisen zu lassen. Außenminister Heiko Maas hat sich wiederholt für „Dublin-Abschiebungen“ und ihre Beschleunigung stark gemacht. Berlin steht sogar deutschen Initiativen, die trotz der „Dublin-Verordnung“ aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufnehmen wollen, im Weg.
In die aktuellen Auseinandersetzungen um die private Seenotrettung im Mittelmeer hat sich jetzt auch die Bundesregierung eingeschaltet. Die italienischen Behörden haben die Kapitänin des Rettungsschiffs Sea-Watch 3, die mit 40 teilweise schwerst traumatisierten Flüchtlingen an Bord Ende vergangener Woche auf ihrem Recht auf Einfahrt in einen sicheren Hafen bestanden hatte, festnehmen lassen und halten sie nun in Hausarrest fest. Ihr drohen eine Anklage und im Fall der Verurteilung im äußersten Falle bis zu zehn Jahre Haft. Die Maßnahme hat international für Empörung gesorgt. Während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die italienischen Hafensperren in heftig kritisierten Stellungnahmen inzwischen sogar schon zweimal für rechtmäßig erklärt hat, äußern etwa die großen christlichen Kirchen gegen die Festnahme der Kapitänin massiven Protest. „Die Rettung von Menschenleben hat unter allen Umständen Vorrang“, wird zum Beispiel der vatikanische Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zitiert: „Dies muss unser Leitstern sein, alles andere ist zweitrangig.“ Gleichzeitig nannte es der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm eine „Schande für Europa“, dass eine Kapitänin festgenommen werde, „weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will“.
Dem schließt sich nun auch Berlin an. „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden“, erklärte Außenminister Heiko Maas (SPD) auf Twitter. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am Sonntag in einem Fernsehinterview: „Italien … ist Gründungsstaat der Europäischen Union.“ Daher könne man „von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht“. Zur Rolle der Bundesregierung, der Steinmeier lange angehörte und der Maas angehört, äußerten sich beide nicht.
Tatsächlich bekämpft auch die Bundesregierung die Seenotrettung im Mittelmeer seit Jahren; in diesem Zusammenhang haben auch deutsche Politiker einer Kriminalisierung privater Seenotretter mehrfach das Wort geredet. Einen ersten umfassenden Schritt gegen die Seenotrettung unternahm Berlin im Jahr 2014, als die italienische Regierung darauf drang, ihre Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ in eine EU-Maßnahme zu überführen. Mit „Mare Nostrum“ hatte Rom in der Zeit zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 mehr als 150.000 Menschen das Leben retten können, musste nun aber – von der Eurokrise gebeutelt – auf Druck Berlins und Brüssels die Ausgaben kürzen. Die Überführung in eine EU-Operation scheiterte an der Bundesrepublik. „Mare Nostrum“ habe sich „als Brücke nach Europa“ erwiesen, beschwerte sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière: „Das kann nicht auf Dauer so sein.“ Tatsächlich hat die Seenotrettung im Völkerrecht strikt Vorrang vor politischen Erwägungen jeglicher Art. Berlin und Brüssel hingegen gestalteten die auf „Mare Nostrum“ folgende Frontex-Operation „Triton“ ganz gezielt so, dass viel weniger Menschen gerettet werden konnten. Anwälte haben deshalb Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt – auch gegen Deutschland).
Private Seenotretter, die schon bald einsprangen, um – auf eigene Kosten staatliche Versäumnisse ausgleichend – Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten, sahen und sehen sich immer wieder mit Attacken der Bundesregierung konfrontiert. So kolportierte Innenminister de Maizière im Juli 2017 Vorwürfe gegen Seenotretter, denen zufolge diese die Transponder ihrer Schiffe „regelwidrig abstellen … und so ihre Position verschleiern“. Zudem führen sie nur mit dem Ziel in libysche Gewässer ein, um Schiffen libyscher Schlepper „schon mal ein Ziel vorzugeben“. Bei den betroffenen Seenotrettungsorganisationen hieß es einhellig, die Vorwürfe seien vollkommen haltlos. Als zur gleichen Zeit Italien einen „Verhaltenskodex“ vorlegte, der die Aktivitäten der Seenotretter massiv einschränken sollte, erklärte de Maizière, er halte dies „für absolut richtig“. Der Kodex verstößt einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags zufolge in Teilen gegen das internationale Recht. Im Juni 2018 wurde bekannt, dass der neue Bundesinnenminister Horst Seehofer in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Innenausschusses des Bundestags strafrechtliche Schritte gegen die Crew eines Rettungsschiffes gefordert hatte. Die aktuellen Maßnahmen der italienischen Regierung entsprechen dem voll und ganz.
Jenseits des konkreten Vorgehens gegen private Seenotretter hat die Bundesregierung maßgeblich zur Schaffung und Aufrechterhaltung des Regelwerks beigetragen, mit dem die Regierung Italiens ihre Repressalien begründet: die sogenannten Dublin-Verordnungen. Ihnen zufolge muss sich derjenige EU-Staat um Flüchtlinge und ihre Asylanträge kümmern, über dessen Territorium sie in die EU eingereist sind. Nach Lage der Dinge sind dies vor allem die südlichen Mittelmeeranrainer Griechenland, Italien und Spanien. Der italienische Innenminister Matteo Salvini hat mehrmals bekräftigt, Seenotrettungsschiffe wieder anlegen zu lassen, sofern die Flüchtlinge nicht in Italien bleiben müssen. Dagegen freilich spricht sich Berlin immer wieder kategorisch aus. So hatte etwa der heutige Außenminister Maas, der Italien jetzt via Twitter kritisiert, Ende 2015 – damals war er Bundesjustizminister – geäußert: „Es mag sein, dass die Dublin-Regeln nicht allen gefallen“; dennoch „müssen sie angewendet werden“. In seinem neuen Amt begleitet Maas nun die Bemühungen des Bundesinnenministers, die Abschiebung von Flüchtlingen gemäß den „Dublin-Verordnungen“ zu beschleunigen. Tatsächlich hat die Bundesrepublik allein im laufenden Jahr bereits rund 1.200 Flüchtlinge nach Italien zurückgeschoben. Die mögliche Aufnahme von 40 Flüchtlingen von der Sea-Watch 3 hingegen hat sie wochenlang abgelehnt und will sie nun allenfalls leisten, wenn sie mit vier anderen EU-Staaten geteilt werden kann.
Zur generellen Aufnahme auf dem Mittelmeer geretteter Flüchtlinge ist Berlin auch weiterhin nicht bereit – dies, obwohl sich zahlreiche deutsche Städte inzwischen dafür zur Verfügung gestellt haben und die Einreise der Flüchtlinge sogar ausdrücklich fordern. Ein solcher Schritt könnte nach Lage der Dinge dazu führen, dass Italien seine Hafensperre aufhebt und zumindest die private Seenotrettung wieder in geregelte Bahnen gelangt. Freilich steht dem der Wille der Bundesregierung im Weg, die Zuständigkeit für Flüchtlinge weiterhin bei den Staaten an den EU-Außengrenzen zu belassen. Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland gelangen, wird dadurch so niedrig wie möglich gehalten. Wieviele Flüchtlinge Berlin in Fällen wie demjenigen der „Sea-Watch 3“ übernommen hat, hat die Bundesregierung Ende April beziffert: Es waren bis dahin 152.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder.
Quelle:
German Foreign Policy
–> Link zur Petition „Freiheit für Carola Rackete“: <–