Sendung 606 vom 02.03.2023
Hallo liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
Am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine befinden sich die westlichen Staaten in einer Diskussion über ihre Ziele im dortigen Krieg und schließen sogar eine „Auflösung“ Rußlands nicht aus. Während sich etwa Kanzler Olaf Scholz auf die Forderung beschränkt, Moskau dürfe „nicht gewinnen“, bestätigt der französische Präsident Emmanuel Macron, es gebe Kräfte, die sich wünschten, daß Rußland auf seinem Territorium angegriffen und „komplett zerschlagen“ werde.
Die NATO ist an dem Krieg praktisch mit einer Streitmacht aus schweren Waffen beteiligt, die von ukrainischen Militärs bedient werden. Die Gefahr, daß der Stellvertreter- in einen offenen Krieg zwischen der NATO und Rußland übergeht, ist groß und nimmt immer weiter zu. Die Forderung, Verhandlungen zur Beendigung des Krieges aufzunehmen und eine politische Lösung des Konflikts anzustreben, wird heute nicht vom Westen, sondern von Staaten des Globalen Südens gestellt.
Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 dauern Krieg, Tod und Zerstörung in dem Land an. Laut Angaben von UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk sind im ersten Kriegsjahr bislang 8.006 zivile Todesopfer nachgewiesen. Wie Türk konstatiert, dürfte die tatsächliche Opferzahl noch deutlich höher sein. Damit bewegt sie sich in einer ähnlichen Größenordnung wie die Zahl der zivilen Opfer des US-geführten Überfalls auf den Irak im Jahr 2003; damals lag die Zahl der zivilen Todesopfer in den ersten beiden Kriegsjahren bei ungefähr 12.000.
Hinzu kommt eine unbekannte Zahl an Soldaten, die auf ukrainischer wie auf russischer Seite zu Tode kamen. Türk erinnert außerdem an „die zahlreichen Leben, die zuvor im Konflikt in der Ostukraine verloren wurden“. Sie wurden von den Vereinten Nationen für die Zeit ab 2014 auf 14.200 bis 14.400 beziffert, davon 3.404 Zivilpersonen. Offiziell heißt es im Westen stets, nur Russland habe es in der Hand, den Krieg mit einem sofortigen Rückzug seiner Truppen zu beenden. Offiziell beschwiegen wird, dass die Friedenslösung, die Ende März 2022 zwischen beiden Seiten fast fertig verhandelt war, durch eine politische Intervention der NATO-Staaten verhindert wurde.
Der Krieg selbst ist längst zum Stellvertreterkrieg geworden. Das zeigt schon ein Vergleich mit früheren Kriegen. So wäre es etwa 2003 und 2011 im Irak respektive in Libyen gänzlich undenkbar gewesen, daß irgendeine Macht das jeweils vom Westen angegriffene Land unterstützt hätte, schon gar nicht mit Waffen. Die westlichen Staaten hätten das als implizite Kriegserklärung eingestuft. Die Ukraine hingegen wird umfassend vom Westen unterstützt. Die Zusagen allein der Vereinigten Staaten für militärische, humanitäre und finanzielle Hilfsleistungen beliefen sich bis Mitte Januar auf 73,18 Milliarden Euro; das ist fast so viel wie die Wirtschaftsleistung Bulgariens.
Die Zusagen der EU und ihrer Mitgliedstaaten lagen bis Mitte Januar bei knapp 55 Milliarden Euro – fast so viel wie die Wirtschaftsleistung Sloweniens. Die NATO-Staaten haben bisher – unter anderem – 368 Kampfpanzer, 1.240 weitere gepanzerte Fahrzeuge, 293 Haubitzen, 49 Mehrfachraketenwerfer und 24 Flugabwehrsysteme geliefert; weitere Waffenlieferungen sind zugesagt. Faktisch führt in der Ukraine eine NATO-Streitmacht, bedient von im Westen trainierten ukrainischen Soldaten, Krieg. Selbst die Kriegsstrategie wird in enger Absprache mit den USA festgelegt, die darüber hinaus Zieldaten für Angriffe liefern.
Die Gefahr, daß der Stellvertreterkrieg in einen offenen Krieg zwischen der NATO und Rußland übergeht, steigt kontinuierlich. Bereits im März des vergangenen Jahres hatten die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags geurteilt, wenn „neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen“ geleistet werde, dann „würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“. Dies ist längst geschehen. Verteidigungsminister Boris Pistorius räumte nur kurz vor seine Amtseinführung ein, Deutschland sei „am Krieg beteiligt …, indirekt“.
Wie knapp die Bundesrepublik vor dem unmittelbaren Kriegseintritt steht, zeigt plastisch die Stationierung des deutschen Flugabwehrsystems Patriot unweit Zamość in Südostpolen nahe der Grenze zur Ukraine. Wie berichtet wird, werden in relativer Nähe zu Zamość westliche Waffen über die Grenze in die Ukraine gebracht; die Transportrouten gelten als ein etwaiges Ziel russischer Raketenangriffe. Die deutschen Flugabwehrtrupps dürfen Raketen nur über polnischem Territorium abschießen. Der Grund: Ein deutscher Beschuß russischer Ziele in der Ukraine wäre der Kriegseintritt. Über Krieg und Frieden entscheidet damit unter Umständen die Präzision der Flugabwehrtrupps; im Ernstfall geht es um Meter.
Dabei ist, was der Westen im Ukraine-Krieg erreichen will, nicht wirklich geklärt. Erst kürzlich hat der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger gefordert, „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ einzurichten, um „die westlichen Kriegsziele so klar zu definieren, daß wir alle wissen …, wo es hingeht“. Differenzen gibt es bereits in Berlin. Während Kanzler Olaf Scholz bisher darauf beharrt, Rußland dürfe „nicht gewinnen“, erklärt Verteidigungsminister Boris Pistorius: „Die Ukraine muß diesen Krieg gewinnen.“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum verlangt, „keine der beiden Seiten“ dürfe „vollständig den Sieg davontragen“: „Ich denke nicht, wie es manche tun, daß Rußland komplett zerschlagen werden, auf seinem Territorium attackiert werden soll“. Letzteres ist unter anderem aus den Vereinigten Staaten zu hören. Zwar nehmen dort Stimmen zu, die zu einer vorsichtigen Orientierung auf eine Beendigung des Krieges raten – auch, um die eigenen Kräfte gänzlich auf den Machtkampf gegen China konzentrieren zu können. Doch hieß es erst unlängst etwa auf einer Tagung der Jamestown Foundation und des Hudson Institute, man solle sich auf die „Auflösung der Russischen Föderation“ vorbereiten.
Während der Westen seine Kriegsziele diskutiert und auf einen langen Krieg einstimmt, werden anderswo Forderungen nach einem baldigen Ende der Kämpfe lauter – im Globalen Süden. In Brasilien hat Präsident Luiz Inácio Lula da Silva angekündigt, Staaten, die den Waffengang stoppen wollen, zu einem „Friedensklub“ („clube da paz“) zusammenzuführen. Auch in Indien wird zunehmend diskutiert, ob New Delhi nicht eine Rolle als Vermittler zwischen Moskau und Kiew spielen könne.
Am Wochenende 18./19.. hat Chinas ranghöchster Außenpolitiker Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine chinesische Initiative zur Beendigung des Krieges angekündigt; Beijing hat eine Stellungnahme von Präsident Xi Jinping in Aussicht gestellt, die nähere Informationen dazu enthalten soll. Damit werden Schritte, die einem Stopp des Krieges den Weg bereiten sollen, nicht aus dem Westen, sondern durchweg aus dem Süden initiiert. Deutschland und die EU, die sich einst als angebliche Friedensmacht inszenierten, sind völlig offen zur Kriegsmacht geworden.
Wir sehen uns zur nächsten Sendung wieder